Wien, Gestern und Morgen
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Dann sprach er von der Verwaltung unserer Finanzen. Er sagte: Mein Gedächtnis sei wahrscheinlich mangelhaft. Ich habe nämlich unsere Abgaben auf fünf bis sechs Millionen jährlich geschätzt, und aus Berechnung unserer Ausgaben müsse er schließen, daß diese bisweilen mehr als das Doppelte betrügen; die Bemerkungen, die er niedergeschrieben, erwiesen, daß die Ausgaben bisweilen über das Doppelte unserer Einnahmen stiegen; er habe gehofft, wie er mir bereits gesagt, die Kenntnis unseres Verfahrens werde ihm nützlich sein; er könne sich aber in der Berechnung nicht getäuscht haben. Habe ich ihm jedoch die Wahrheit gesagt, so könne er seinerseits nicht begreifen, daß ein Königreich, wie mancher Privatmann, über sein Vermögen hinaus verschwende. Er fragte mich, aus welchen Personen unsere Gläubiger bestünden und woher wir Geld nähmen, sie zu bezahlen. Er wunderte sich, daß ich von so kostbaren Kriegen spräche. Wir müßten sicherlich ein zänkisches Volk sein oder sehr schlechte Nachbarn haben; unsere Generäle aber müßten reicher als Könige sein.2 Er fragte: Was uns die Angelegenheiten des Auslandes angingen, wenn diese nicht unseren Handel oder einen Vertrag oder die Verteidigung unserer Inseln beträfen. Vorzüglich aber sei er erstaunt, daß ich von einem besoldeten und stehenden Heere spreche, das mitten im Frieden und in einem freien Lande gehalten werde. Er fügte hinzu: Wenn wir nur mit unserer eigenen Zustimmung durch die Personen unserer Abgeordneten regiert würden, so könne er nicht begreifen, vor wem wir uns fürchteten oder wen wir bekämpfen wollten. Er wolle meine Meinung hören, ob das Haus eines Privatmannes von ihm selbst, seiner Familie und sei nen Kindern nicht besser verteidigt würde als von einem halben Dutzend Schurken, die man auf gut Glück und für weniges Geld in den Straßen aufgreife und die sich hundertmal mehr Gold erwerben könnten, wenn sie uns die Kehle abschnitten.
Er lachte über meine sonderbare Berechnung, wie er zu sagen beliebte, mit der ich die Einwohnerzahl nach religiösen und politischen Parteien bestimme. Er wisse keinen Grund, weshalb diejenigen, die eine staatsfeindliche Gesinnung hätten, gezwungen würden, diese zu ändern, oder nicht gezwungen, sie zu verhehlen. Es sei Tyrannei, verlange eine Regierung das erstere; es zeuge dagegen von Schwäche, wenn das letztere nicht erzwungen würde. Man dürfe den Menschen wohl erlauben, Gifte in ihren Zimmern zu verschließen, jedoch nie, sie öffentlich als Tötungsmittel zu verkaufen.
Er bemerkte ferner: Da ich unter den Vergnügungen der höhern Stände auch das Spiel erwähnt habe, so wünsche er zu wissen, in welchem Alter man gewöhnlich mit dieser Unterhaltung anfinge und wann man diese wieder aufgäbe; ob so hoch gespielt werde, daß der Vermögensstand in Gefahr gerate, ob gemeine und lasterhafte Leute sich durch diese Kunst nicht große Reichtümer erwürben und bisweilen sogar unsere Pairs in Abhängigkeit hielten, sie an niedrige Gesellschaft gewöhnten, die Ausbildung ihrer Geistesanlagen verhinderten und durch erlittene Verluste diese zwängen, eine schmähliche Fertigkeit auch gegen andere auszuüben.
Er erstaunte ungemein über den geschichtlichen Bericht, den ich ihm über unsere inneren Angelegenheiten während des vergangenen Jahrhunderts gab. Er behauptete, diese Geschichte sei nur eine Anhäufung von Verschwörungen, Rebellionen, Ermordungen, Revolutionen, Verbannungen, den schlimmsten Wirkungen, die Geiz, Parteisucht, Heuchelei, Treulosigkeit, Grausamkeit, Wut, Tollheit, Haß, Neid, Wollust, Bosheit und Ehrgeiz jemals hervorrufen könnten.
In einer anderen Audienz geruhte der Kaiser, die Summe alles dessen, was ich gesagt, kurz zusammenzufassen und meine Antworten mit seinen Fragen zu vergleichen; dann nahm er mich auf die Hand, streichelte mich sanft und sprach dann folgende Worte, die ich aber so wenig vergessen werde wie den Ton, womit sie gesagt wurden: "Mein kleiner Freund Grildrig, Sie haben Ihrem Vaterlande eine bewundernswerte Lobrede gehalten; Sie haben deutlich bewiesen, daß Unwissenheit, Faulheit und Laster die passendsten Eigenschaften sind, einen Gesetzgeber zu bilden; daß Gesetze am besten von denen erklärt und angewandt werden, deren ganzes Interesse und Bestreben darauf hinausgeht, sie zu verdrehen, zu verwirren und sich ihnen zu entziehen. Ich bemerke bei Ihrem Volke einige Grundsätze und Einrichtungen, die anfangs erträglich gewesen sein mögen; aber diese sind schon zur Hälfte beseitigt, und alles, was übrigblieb, ist durch Verderbnis befleckt. Aus allem, was Sie mir gesagt haben, geht hervor, daß keine Vollkommenheit erfordert wird, um den Bewerbern höhere Stellen zu verschaffen; noch viel weniger, daß die Menschen wegen ihrer Tugend den Adelsrang erhalten; ferner daß keineswegs Priester wegen ihrer Frömmigkeit und Gelehrsamkeit, Soldaten wegen ihrer Führung oder Tapferkeit, Richter wegen ihrer Rechtschaffenheit, Senatoren wegen ihrer Vaterlandsliebe und Räte wegen ihrer Weisheit befördert werden. Was Sie selbst betrifft", fuhr der König fort, "so haben Sie Ihre meiste Lebenszeit auf Reisen verbracht, und ich hoffe deshalb, daß Sie manche Laster Ihres Vaterlandes gar nicht kennen. Aus dem, was ich aus Ihrer Erzählung schließen muß, und aus den Antworten, die ich Ihnen mit vieler Mühe erpreßte, kann ich nur den Schluß ziehen, daß die Masse Ihrer Landsleute das verderblichste Geschlecht von kleinem Gewürm bildet, dem die Natur jemals erlaubt hat, auf der Oberfläche der Erde umherzukriechen."
Fußnoten
1 Der Kanzleihof (Court of Chancery) ist der Gerichtshof, der in letzter Instanz nach Billigkeit (als Court of equity) entscheidet, ohne jedoch den bestehenden Gesetzen etwas zu vergeben. In seinen Bereich gehören ferner alle Vormundschaftssachen und einiges andere. Bis 1830 war er wegen seiner Langsamkeit berüchtigt, weil er nur aus dem Lordkanzler und zwei Beisitzern bestand.
2 Swift denkt hierbei an die ungeheure Belohnung, die dem Herzog von Marlborough, der sich übrigens auch durch Lieferungen, Börsenspekulationen usw. bereichert hatte, von der Nation erteilt wurde.
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